“Nach 11 Jahren Ehe mit einem Mann und zwei Kindern, bin ich jetzt mit einer Frau verheiratet” Konstanze, 43

In meiner Familie wurde nie über  Sexualität gesprochen und demnach wurde ich auch nicht von meine Eltern aufgeklärt. Auch wenn ich es nicht als ein Tabu oder als etwas Schambehaftetes in Erinnerung habe, es war einfach nie Thema in den Gesprächen mit uns Kindern.

Mein erstes Mal Sex hatte ich mit 19 Jahren, was ich als spät empfand. Allgemein hatte ich das Gefühl, auch körperlich ein Spätzünder zu sein, denn meine Brüste wollten einfach nicht wachsen. Ich fragte mich in dieser Zeit, was  “Frau sein” für mich eigentlich bedeutete. Ich mochte meinen weiblichen Körper, konnte gleichzeitig aber nur wenig mit weiblichen Attributen anfangen. Vieles, was allgemein als weiblich galt, war mir fremd, sei es Röcke, Zurückhaltung, spielen mit Puppen, etc.

Mir und anderen Menschen einzugestehen, dass ich ein sexuelles Wesen mit Lust und Fantasien bin, habe ich mich nicht getraut
Bis ich 40 Jahre alt war, war meine Vorstellung von Sex sehr heteronormativ geprägt. Mein Horizont war nicht viel weiter als “klassische Penetration” und auch das wenig fantasievoll.  Ich mochte Sex und hatte auch welchen, aber es hatte nichts mit dem Ausleben meiner Sexualität zu tun. Ich habe gemacht, was ich kannte und wo ich mich „sicher“ fühlte. Meine Fantasien habe ich immer eher mit mir selbst und Selbstbefriedigung ausgelebt. Mir und anderen Menschen einzugestehen, dass ich ein sexuelles Wesen mit Lust und Fantasien bin, habe ich mich nicht getraut.

Ich haderte damals sehr mit mit dem Gedanken, möglicherweise lesbisch sein
Nach meinen ersten sexuellen Erfahrungen hatte ich immer wieder Sex mit Männern und schon früh auch mit Frauen. Erfahrungen mit Frauen haben mich immer gereizt, weil ich es mit Männern oft ein bisschen langweilig fand. Dennoch haderte ich damals sehr mit mit dem Gedanken, möglicherweise lesbisch sein zu können, denn das schien unvereinbar mit meiner eher klassischen Vorstellung von Familie.

Wir hatten wenig bis gar keinen Oralsex, weil ich es als zu intim empfand
Ich verliebte mich schließlich in einen Mann, heiratete ihn und bekam zwei Kinder während der 11 jährigen Beziehung. Sex war mir durchaus wichtig und mein Mann und ich hatten auch regelmäßigen Sex. Ich war eher die passive Partnerin und die Initiative ging eigentlich immer von ihm aus. Ich erlebte mich nie als lustvolle und leidenschaftliche Person in dieser Beziehung, sondern eher als unsicher und zurückhaltend, was in erster Linie an meinem fehlenden Selbstvertrauen und Selbstliebe lag. Wir hatten wenig bis gar keinen Oralsex, weil ich es als zu intim empfand, obwohl wir so lange zusammen waren. Ich schämte mich für meine großen inneren Schamlippen, die nicht dem entsprachen, was ich auf erotischen Bildern oder im Porno sah.

Obwohl ich beim Sex mit meinem Ex-Mann regelmäßig zum Orgasmus kam, hatte unser Intimleben nach den ersten doch aufregenden und lustvollen Jahren einen eher technischem Charakter mit vorprogrammiertem Ablauf. Das Vorspiel ging immer von ihm aus und war ehrlich gesagt immer das gleiche und wenig leidenschaftlich. Erregt wurde ich höchstens durch die Erregung meines Partners. Sonst lief Sex ab wie ein Film, den man zig mal gesehen hatte und bei dem man das Ende genau kannte.

Da ich mich so wenig mit meiner Lust identifizieren konnte, erschien mir die Vorstellung absurd, in Reizwäsche vorzugeben „sexy zu sein”
Wir sprachen zwar über Sex, dann aber darüber, wann wir ihn zuletzt hatten, ob wir mal wieder sollten oder warum ich keine Lust hatte. Über unsere Vorlieben oder was wir gerne mal probieren würden, sprachen wir hingegen nie. Er deutete mal an, auf schöne Unterwäsche zu stehen und das löste in mir einen inneren Konflikt aus. Da ich mich so wenig mit meiner Lust identifizieren konnte, erschien mir die Vorstellung absurd, in Reizwäsche vorzugeben „sexy zu sein”. Ich fühlte mich zu der Zeit weder mit meinem Frau-Sein noch mit mir als sexuellem Wesen richtig wohl.

Der Sex mit dieser Frau fühlte sich ganz anders als mit meinem Mann an
Als unsere Beziehung schon einige Jahre sehr festgefahren und nicht mehr wirklich glücklich war, lernte ich eine Frau kennen, verliebte mich Hals über Kopf in sie und alles änderte sich. Die Anziehung zu ihr hat mich nicht mehr losgelassen und mir aufgezeigt, wie unerfüllt ich in meiner Ehe war. Die Möglichkeit einer Trennung und eines neuen Lebens war plötzlich denkbar. Ich trennte mich und zog aus, während die Bindung und Beziehung zu dieser Frau weiter wuchs.

Der Sex mit dieser Frau fühlte sich ganz anders als mit meinem Mann an. Sie war offen, selbstbewusst und hatte ein sehr entspanntes Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Sexualität. Dadurch gewann auch ich immer mehr Selbstvertrauen und den Mut, zum ersten Mal in meinem Leben ganz offen über Sex sprechen zu können. Unsere Gespräche über unser Sexleben umfassten Themen, über die ich vorher weder nachgedacht noch je gesprochen hatte. Durch diese Offenheit fand ich auch einen ganz neuen Zugang zu meiner Lust. Doch das brauchte seine Zeit. Ich fühlte mich wahnsinnig zu dieser Frau hingezogen und körperlich angezogen, war mir jedoch im Hinblick auf meine eigenen Sexualität weiterhin sehr unsicher. Doch da der „klassische heterosexuelle Sex“ nicht möglich war, musste ich mich mit der Zeit immer mehr öffnen. Durch ihre liebevollen Ermutigungen habe ich meine Lust und Sexualität zum ersten Mal entdeckt und annehmen können.

So haben wir schon Neues ausprobiert und einen Doppeldildo genutzt
Mit dieser Frau bin ich mittlerweile 5 Jahre zusammen und bald ein Jahr verheiratet und finde sie immer noch unglaublich erregend. Ich habe früher den Aspekt der Penetration beim Sex nie wirklich genossen beim Sex mit einem Mann und entdecke jetzt erst die erregenden Seiten daran. So haben wir schon Neues ausprobiert und einen Doppeldildo genutzt. Doch besonders schön finde ich die Penetration durch Finger, da es wie ein Erforschen ist, das gleichzeitig erregend ist für beide Seiten. Penetration sehe ich jetzt als schöne mögliche Sexpraktik, die sein kann, aber eben Sex nicht definiert. Sexualität bedeutet für mich heute vor allem, mich meiner Lust hingeben zu können, ohne eine Plan zu haben. Der Orgasmus ist zwar toll, aber am meisten genieße ich es, gemeinsam Lust zu empfinden und uns das zu zeigen.
Ich komme dabei nicht immer zum Orgasmus, genieße trotzdem neue Praktiken wie das “Scissoring” sehr, wenn sich beide Körper, beide Vulven so nah sind. Für mich schafft diese Stellung eine große Nähe und Verbindung zu meiner Partnerin, auch, weil wir uns dabei in die Augen schauen und küssen können. Einen Orgasmus zu haben ist schön, aber in unserem Sexleben nicht das Wichtigste. Es geht vielmehr um diesen sehr intimen Moment, den wir gemeinsam erleben dürfen.

Meine Sexualität ist auf jeden Fall vielfältiger geworden durch das Erleben mit meiner Frau
Obwohl ich mittlerweile 5 Jahre mit meiner Frau zusammen bin, habe ich niemals das Gefühl gehabt, nun „lesbisch“ zu sein oder mich „geoutet“ zu haben, weder vor meinen Kindern, Ex-Mann, noch meinen Eltern oder Freunden. Ich war lange mit einem Mann zusammen und habe mich nun in eine Frau verliebt. Nach wie vor empfinde ich meine sexuellen Erfahrungen mit Männern als reizvoll. Für mich gibt es da kein schwarz und weiß. Sexualität ist für mich viel mehr das energetische Zusammenspiel zweier Menschen und Körper. Wobei ich klar sagen kann, dass ich den weiblichen Körper weitaus sinnlicher und schöner finde.

Meine Sexualität ist auf jeden Fall vielfältiger geworden durch das Erleben mit meiner Frau und ich freue mich sehr, auf alles, was wir noch zusammen und ich mit mir erleben darf. Außerdem habe ich viele alte, eher konservative Rollenbilder hinter mir gelassen, wie die klassische Familienkonstrukt von Vater-Mutter-Kind. Familie ist für mich jetzt lebendiges familiäres System und ein Zusammenleben und Erleben von Menschen, die mir nahe sind und die ich liebe. Familie ist viel inklusiver geworden. Es gehören heute eben auch meine Frau mit ihrer Tochter, die Eltern meines Ex Mannes, die neue Frau meines Ex Mannes aber auch Freunde von mir dazu.

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